Was ist Armut? Welche Rolle spielt die Alphabetisierung bei der Überwindung der Armut?
Diesen Fragen geht Martin Kämpchen in seinem Buch „Leben ohne Armut – wie Hilfe wirklich helfen kann – meine Erfahrungen in Indien“ (Herder-Verlag) nach. In einer Veranstaltung der Stiftung Entwicklungszusammenarbeit Baden-Württemberg (SEZ)* mit dem Titel „Alphabetisierung als erster Schritt zum Leben ohne Armut“ trug der Autor Auszüge hieraus vor:
„Armut ist ein mentaler Zustand“. – Wir definierten Armut in der Regel als Mangel an materiellen Dingen, was aber nur zu fünfzig Prozent stimme. Mentale Armut bedeute, dass der Arme alles so mache, wie er es gelernt habe. Mit diesem Festhalten am Gelernten wollten die Armen zumindest ihre Ehre behalten. Da sie nicht weiterdenken könnten, gäbe es auch keine Innovation.
Schulbildung. Wenn es sie nicht gäbe, würde es überhaupt nicht weitergehen.
Wie erlebt ein Analphabet die Welt? Dazu der Autor (vgl. Seiten 62f): „…in Europa sind wir von Menschen umgeben, die in überwiegender Mehrzahl lesen und schreiben können. Darum können wir uns nur schwer vorstellen, welches Hindernis der Analphabetismus auf dem Weg zu einer persönlichen Entwicklung bedeutet. Die armen, analphabetischen Menschen in den Dörfern leben wie in einem mentalen Käfig. Mögen sie auch intelligent sein, sie können ihre Intelligenz nur minimal nutzen. Mögen sie praktisch begabt sein, sie können ihre Begabungen nicht optimal freisetzen…Im Dorf kommen sie bei der Verrichtung ihrer bäuerlichen Arbeiten noch ohne Schulbildung aus. Doch sobald sie ins Nachbardorf gehen, etwa zum Bauern, auf dessen Feldern sie arbeiten wollen, oder zum Markt, um Gemüse zu kaufen, ist Schulbildung bereits von Vorteil. Ohne Schulbildung können sie sich vor Menschen, die nicht zum engsten Familien- und Dorfkreis gehören, nicht zielführend äußern. Sie verstehen nicht, wie sie ihre Gedanken ordnen müssen, um eine bestimmte Bitte, einen Wunsch, eine Forderung auszudrücken. Es kommt unsortiert und unverständlich wie ein Wortsalat aus ihrem Mund….Wenn sie auf ein Amt gehen, um einen Stempel auf ein Papier zu verlangen, können sie dem Angestellten nicht erklären, was sie brauchen…Wenn die Bauern auf dem Markt einkaufen oder sich von einem Großbauern ihren Tageslohn auszahlen lassen, sehe ich, wie argwöhnisch sie die Münzen und Geldscheine in den Händen hin- und herdrehen. Hat man sie betrogen? Will man ihnen etwas aufschwatzen? Die Armen werden gelernt haben, die Geldscheine zu identifizieren…Doch ein Leben lang rechnen sie erst mit gefurchtem Gesicht an ihren Fingern, weil sie sich die einfachen Rechenvorgänge immer neu ins Gedächtnis rufen müssen. Sie wissen, wie leicht man sie übers Ohr hauen kann und wie häufig dies schon geschehen ist…“
Soweit ein kleiner (komprimierter) Auszug – es lohnt sich, diesen unterhaltsamen Bericht eines engagierten Kämpfers für die Alphabetisierung komplett zu lesen. – HJE
*Am 20. April 2012 Stuttgart, Haus der Wirtschaft